…hatte ich dieses Jahr – stickig-heiß draussen in Northeim, bemüht-kulturell drinnen im 3-Sat-/ORF-Studio in Klagenfurt. Meine Erwartungen an die vortragenden Schriftstellerinnen waren im Ungewissen, denn ich muss zugeben, dass ich die aktuellen Bewegungen und Strömungen der Gegenwartsliteratur nicht mit brennendem Herzen verfolge. Heißt also: irgendwie habe ich da was vom Durchschnitts-Otto an und in mir.
Aber ich gab meiner bescheidenen Neugier nach – es war zu heiß, um irgendetwas anderes zu machen. Ohnehin war in meiner Erinnerung der Bachmann-Preis eine Veranstaltung, bei er es vor allem auf öffentliche Hahnenkämpfe der Juroren ankam, die sie auf der Basis der eingereichten bzw. vorgeschlagenen Texte ausfochten – und die Autoren durften stumm diesen Disputationen folgen, ohne hoffentlich die Kontrolle über ihre Gesichtsmuskeln zu verlieren.
Nava Ebrahimi las dann lange 25 Minuten über „Der Cousin“ und Nadine Schneiders ‚Quarz‘ folgte eine Stunde später. Dazwischen das ‚litterarische‘ Geplänkel der Juroren. Der Beliebigkeit der Perspektiven waren keine Grenzen gesetzt, dem Unverständnis auch nicht. Eine kleine Leseprobe aus der Zusammenfassung des ORF über den Beitrag zum ‚Cousin‘ von Insa Wilke und der Erwiderung von Philipp Tingler:
„Ob diese Katharsis überhaupt möglich ist, danach fragt dieser Text“, so Wilke. Er zeige eine Gesellschaft als Gefängnis, er zeige aber auch, dass er selbst ein Gefängnis sei. Das sei der „Zirkelschluss“ zu der Frage, ob man Erfahrung vermitteln könne und ob das Mitgefühl der Leserschaft echt sei.
Philipp Tingler erwiderte, er wisse nicht, was Wilke meinte.“
Das trifft meinen Eindruck schon nicht schlecht….ohnehin wurde der Austausch von Statements nicht unbedingt von den Texten geleitet, sondern von den mehr oder minder spontanen Lieblings-Themen oder -Perspektiven der Jury-Mitglieder:innen, am informatiefsten war dabei ein Exkurs über Adalbert Stifter, dessen Nähe die Erzählung ‚Quarz‘ wohl gesucht hatte. Die Erläuterungen zu den ‚Bunten Steinen‘, ‚Bergkristall‘ und Stifters ‚Sanftes Gesetz‘ waren wahrhaft gehaltvoll – zumindest im Vergleich zur Flausch-Kritik der Jury.
Man wollte sichtlich nicht verletzend sein, was in den Vorjahren wohl vorgekommen sein muss. Ob aber eine Kritik wie ‚mittelmäßig‘ nicht noch viel tiefer geht, sei einmal dahingestellt. Wobei ich schon einmal vorgreifend anmerken muss, dass mich diese Geschichten nicht gepackt haben, sondern eher in die Kategorie ‚Vernichtung von Lebenszeit‘ gehören, da sie weder stilistisch noch inhaltlich irgendetwas Neues mitbringen.
Die Aussprache über die Texte (man merkt hier hoffentlich, dass ich das Wort ‚Diskussion‘ – und mehr noch ‚Diskurs‘ – absichtlich vermeide…) war eine Kette von Statements, die man machen kann, aber nicht machen muss, es gab Einschätzungen aus verschiedenen Perspektiven, wobei die Relevanz der Perspektiven wiederum beliebig war. Und so kam es, wie es kommen musste: Statt den klugen Statements zu folgen, verlor das Akustische die Oberhand und das Visuelle gewann immer mehr meine Aufmerksamkeit.
Zwar schaffte es Insa Wilke noch einmal, mein Interesse zu gewinnen mit der Aussage “Der Text ist nicht in der Zeit verortet!“, doch nur für wenige Sekunden, denn schon Heidegger wusste, dass das Sein in der Zeit west – und was sind Geschichten anderes als erzähltes Sein?
Und so konzentrierte ich mich auf das Wie-So-Sein der Jury im TV: da saßen ja keine Menschen, die man per Zufallsgenerator von der Straße eingeladen hatte, sondern Performance-Künstler, die ihren Auftritt sicher mit großer Sorgfalt vorbereitet hatten – mit Kostüm und Staffage. Lifestyle- und Haltungs-Models mit einer doch einheitlichen Botschaft: wir sind unkonventionell!
Doch lassen wir sie Revue passieren, es war für mich ein Moment, der nicht (sofort) in Vergessenheit geraten soll.
Typ 1: Die Business Women, rotes Sakko, schwarze Bluse, eine Perle im Ausschnitt, ein Ehering. Ganz klassisch, wenn da nicht zwei Details dazukommen würden: vorn rechts auf den Tisch gelegt eine giftgrüne Handtasche, leicht eingerollt und eine Kaffeetasse, die allerdings nicht auf der Untertasse stand, sondern dezent danebengestellt war – klassisch und unkonventionell, mit einer leichten Lässigkeit – gute Performance!
Typ 2: Der Mittfünfziger mit grauem T-Shirt und der Botschaft ‚weniger ist mehr‘, der Intellekt braucht keine Verkleidung. Und ein Hinweis, dass er wohl die witzigen Seiten des Lebens schätzt: der T-Shirt-Aufdruck von Tenenbaum-Tennis weist ihn als Kenner von gelungenen Film-Satiren aus. Und er widersteht auch unterm Tisch den aktuellen Trends: rote Wildleder-Slipper, die nicht einmal mehr der Papst trägt, sind für ihn vielleicht ein letztes Relikt des Sehnsucht-Ortes ‚Als ich noch 25 war..“
Typ 3: Die Kanzlerin: Ein blau-seriöses Kleid, die Merkel-Bernsteinkette um den Hals, aufgeräumter Tisch – unangreifbar!
Typ 4: Eine schwarze Hängerbluse mit großem floralen Muster unter einer unglücklichen Frisur, bei der die Haare strähnig-dünn herunterhingen, zeigte dieser Typ, den man der Maxime ‚die inneren Werte zählen‘ zuordnen könnte. Nur keinen Aufwand betreiben, aber ordentlich muss es sein – die Durchschnittsfrau mit Tiefe. Und natürlich mit Vorbereitung: Eine größere rote Mappe vorn rechts auf dem Tisch platziert deutet ganz sicher an „da hat sich jemand gut präpariert und macht das mit Ernst“!
Typ 5: Noch ein Künstler, aber mit Hemd: natürlich Profi-schwarz. Und seine Kreativität wird durch das Tisch-Arrangement bebildert: Ein kleines Chaos, das das Genie aber immer beherrscht. Und er kam wohl grad direkt aus dem Leben, auch die Botschaft könnte dabei sein, denn aus der Hemden-Brusttasche lugt noch Key-Card des Hotelzimmers(?) hervor.
Typ 6: Es tut mir leid, die Gesichter habe ich nicht so gut abgespeichert, weshalb bei Typ 6 mir vor allem der Begriff ‚Schwangerschaftskleid‘ hängen geblieben ist – fast genauso wie Frau Berger in der Folge 3342 der ‚Roten Rosen‘. Aber sie hat eine ernste Rolle – und deshalb liegt bei ihr vorn rechts auf dem Tisch auch immer das Buch der Autorin, die gerade gelesen hat. Und sie schreibt wohl auch Notizen mit: Links auf dem Tisch eine Schlamper-Tasche wie beim Deutschunterricht in Klasse 11. Nur bei den Fingern hat Frau Ernsthaft eine kleine Schwäche: 5 oder 6 Ringe schmücken die Hände, aber zurückhaltend in Pastellfarben, halt typgerecht!
Typ 7: Der Stil-Mix-Unkonventionelle: natürlich kein Hemd, auch hier wieder das Botschafts-T-Shirt: Weltläufigkeit (Beverly-Hills-Aufdruck), kombiniert mit Überwindung des Werbeverbots (Nike-Aufdruck). Against all…
Was mich ratlos ließ: der Schlüssel am Band um den Hals – oder habe ich nur nicht verstanden, dass das ein Modeschmuck war? Aber das Prächtigste von allem – leider nur einmal kurz im Bild, da es dem Regisseur nicht sofort aufgefallen war: die Schuhe! Echte Birkenstöcker‘ mit grausig-bunten Strickstrümpfen – damit ist man auf jeder hippen Party sofort im Zentrum aller Gespräche! Wie ich schon sagte: Unkonventionell…..
Achja – da gab es auch noch die Lesungen, und die waren…..absolut konventionell!
Zwei Erzählungen aus der Ich-Erzähler-Perspektive, wobei Nadine Schneider einen kleine Wechsel als Stilmittel hineinbrachte: die direkte Erinnerung wurde an manchen Stellen ersetzt durch ein historisches Ich in der Form ‚Mein Tagebuch sagt dazu…‘ – nett gemacht, aber eigentlich eine mechanische Floskel, da die zweite Perspektive keinen anderen Ton hineinbringt. Den Sprach-Duktus in beiden Fällen würde ich als geordnete, sortierte, korrigierte Normalsprache verstehen, bei Ebrahimi nervt aber die gewollte Dialogisierung, die sich ordentlich strukturiert mit beschreibenden Teilen, bemüht adjektivierend, mechanisch abwechselt. Und was mir noch auffiel: die Erzählungen sind ironiefrei und nachrichtennah.
Und was war die Botschaft? Hat sie mich erreicht? Was will uns die Dichterin damit sagen? Gewiss wurde gesprochen und gewiss gab es einen Inhalt. In ‚Quarz‘ wurde an kleinen Details die Geschichte einer Einbürgerung/Assimilation geschildert, nicht als zufriedener Blick in den Garten, wie es bei Brockes demonstriert wird, sondern mit kleinen Widerständen und kleinen Niederlagen, aber der Gewissheit, dass es vorangeht. EIne ‚Normalsprache‘ ist wohl für diesen Blick sogar die richtige Wahl. Aber man sollte auch die Geister berücksichtigen, die man auch rief: Stifter als Namensstifter für den Titel, ja! Aber den Vergleich mit den Erzählungen Stifters hält die Geschichte nicht aus.
Die Geschichte ‚Der Cousin‘ ist dagegen für mich gelungen in der Anlage verschiedener Ebenen und deren Zusammenbruch als Pointe, jedoch ist es in Sprache und Logik nicht überzeugend. Es geht um die Erlebnisse eines Syrers, der ein gefeierter Tänzer in New York ist, während der Flucht aus Syrien als Zwölfjähriger, auf der er und seine Mutter in Indonesien ein halbes Jahr im Gefängnis waren. Was in diesem Männergefängnis passiert sei, sei seit ca. 15-20 Jahren ein Geheimnis. Das kann man so sagen, aber was dort passiert sein wird, kann man an einem Finger abzählen – ohne auf Details einzugehen.
Während eines Empfangs im Lincoln Center zieht der Cousin seine Cousine in einen Theatersaal und offenbart ihr nun – langersehnt – die Geschehnisse im Gefängnis, während er sich auf der leeren Bühne hin- und herbewegt und auch einige Kulissen mit ins Spiel kommen. Erschüttert hört die Erzählerin die lang vermissten Details/die Wahrheit und geht dann mit ihrem Cousin aus dem Theatersaal hinaus, wo sie von den applaudierenden Besuchern empfangen werden, die alles aus dem Saal auf einer Leinwand mitgesehen haben. ‚Ausverkauft‘ raunt ihr der Cousin zu.
Eine tieftraurige Geschichte, aber nicht wegen der Erlebnisse auf der Flucht. Eine Geschichte über den Warencharakter der Erinnerung, eine Geschichte über die Täuschung, endlich im intimen Zweierkreis ein Familiengeheimnis zu erfahren, dabei aber nichts anderes als eine vordefinierte Rolle in einem öffentlichen, erfolgsorientierten Theater-Spektakel gespielt zu haben, benutzt worden zu sein. Das langgehegte Geheimnis nichts anderes als ein Garant für das dauerhafte Mitleid der anderen, die sich bemühen, ihm bei der Bewältigung zu helfen. Und der Cousin zeigt sich dann als kommerzielles Genie, der auf die Befindlichkeiten seiner Verwandten nicht so sehr Rücksicht nimmt, sondern sie geschickt benutzt und seine eigene Geschichte unsentimental instrumentalisiert. Ausverkauft. Eigentlich also Kapitalismus-Kritik – oder auch Medien-Kritik. Nicht zu Unrecht fühlte sich ein Kritiker dann auch an einen Michael-Douglas-Film erinnert: The Game.
Aber die Jury blieb hier einfach beim Flüchtlings-Drama und der Ungerechtigkeit hängen – das war zu kurz gesprungen – aber immerhin: Kostüm und Requisite stimmten!