oder: Ecce homo! HNA-Interview mit Prof. Herminghaus (23.1.17)
Was für ein Segen: der Eco-Bus kommt und alle freuen sich wie die Kinder am 24.Dezember, die nachts vom Sack voller Geschenke geträumt haben! Und allen voran unsere wackeren Volksvertreter:
– Öffentlicher Nahverkehr für jeden – ja!
– Öffentlicher Nahverkehr zu jeder Zeit – jaa!
– Nahverkehr von Tür zu Tür – jaaa!
– Mit einer besseren Ökobilanz als Individualverkehr – jaaaa!
– Mit geringerem Zuschuss der Gemeinden – jaaaaa!
– Mit sozial ausgewogenen Fahrpreisen für alle – jaaaaaa!
Und diese neue Heilslehre (Heilsleere?) kommt mit akademischem Ritterschlag direkt vom MPI: das kann nur gut werden – und die glauben auch wirklich selbst dran, denn sie haben ja schon Erfahrung mit Staubildung auf der Autobahn, Organisation von Regentropfen in einer Gewitterwolke und Verteilung von Menschenmassen in Städten wie München und Shanghai! Und nun Landkreis Northeim…
Und an Superlativen wird nicht gespart: der Nahverkehr wird revolutioniert, der Individualverkehr eingedämmt (hoffentlich weiß der das schon…) und alle, ja wirklich alle (Verkehrsverbund, Gemeinden, Landkreis, Busunternehmen, Taxis) ziehen an einem Strang. Das System sei intelligent (mir würde effektiv wirklich schon reichen, Großer Bruder..) und reagiere augenblicklich auf neue Anforderungen, wobei der Mensch mit seinem Bedarf im Vordergrund stehe statt eines festgezurrten Fahrplans – allerdings wohl nur, wenn er auch über das richtige Smartphone mit der richtigen Äpp verfüge…
Der einzige Wermutstropfen: so genau weiß man eigentlich nichts, denn zuerst müsse in 2018 eine Testphase mit Kleinbussen laufen, damit man aus den Erfahrungen lernen kann – und die liefen ja nur so mit und hätten natürlich keinen Einfluss auf den Linien-Nahverkehr.
Nun glaube ich ja auch an das Gute im Menschen und unterstelle den MPI’lern lautere Ziele, aber diese Versprechen tendieren für mich Richtung ‚Glaubensbekenntnis‘ und nicht Richtung ‚Lasten- oder Pflichtenheft‘. Aber bei den öffentlichen Kassen scheinen die Fördertöpfe wohl eher bei Visionen zu sprudeln – es geht ja schließlich um das Makro-Ziel ‚Eco‘. Da simmer dabei, das ist priiima! Einsatz? Schlappe 94.000 Euro in den nächsten beiden Jahren – allein vom Landkreis Northeim.
Und dann bekommt der Plan auch ein Gesicht: Prof. Herminghaus referiert über Phasenübergänge, wobei der Übergang rentabel-unrentabel so ähnlich sei wie fest-flüssig-gasförmig. Bislang seien leider alle Rufbus-Systeme unrentabel, aber es müsse einen Übergang geben: wann und wie der zu bestimmen sei? Dazu fehle aber eine Menge an Grundlagenforschung, aber dafür seien sie ja da. Die Heterogenität sei eine große Herausforderung, der man sich mit analytischer Theorie, numerischer Methodik und Testfahrten stellen wolle. Wenn man denn erste Erfahrungen hätte sammeln können, „geht die Forschung erst recht los..“. Die Daten würden „interessante wissenschaftliche Fragestellungen aufwerfen“. Die Frage nach ähnlichen Projekten fällt etwas ausweichend aus: Es sei eine Untersuchung wie emergenter Phänomene entstehen und sich verhalten, so wie Tröpfchen in einer Turbulenz, Nervenimpulse bei der Gedankenbildung und Stare beim Vogelflug. Und ähnlich müsste es auch bei Verkehrsteilnehmern und Verkehrssytemen sein, auch wenn man das nicht sicher vorausahnen kann. Er glaube, dass hier universelle Gesetzmäßigkeiten am Werke wären, „die wir noch nicht verstanden haben“. Verstehe ich das richtig? Da gibt es also noch nichts wirklich konkretes, aber viel, viel guten Forscherwillen? Oder hat der Redakteur und Interviewer alles nur halb und teilfalsch verstanden?
Stellen wir uns doch mal etwas blöd und einfältig und folgen nicht dem Spaziergang in Forscherhöhen: Das ganze Unternehmen hat doch keinen wissenschaftlichen Zweck; es geht doch darum, dass Menschen zu bestimmten Zeiten für bestimmte Erledigungen oder Vergnügungen von A nach B kommen, auch wenn sie kein Individual-Gefährt nutzen wollen oder können. Das kann auch heute jeder – sofern er in der Lage und bereit ist, das Taxi-Entgelt zu bezahlen und ggf. auf die Verfügbarkeit zu warten.
Wenn ich dann aber eine eierlegende Wollmichsau verspreche, dann muss ich doch konkrete Situationen vor Augen haben, für die ich Abhilfe verspreche. Für wen, was und wo brauche ich das Eco-Ruf-Bus-System?
Die wichtigsten Fragen:
– Welche Zielgruppen habe ich im Sinn?
– Wieviele Personen werden in Summe den Service nutzen?
– Zu welchen Zeiten muss ich den Service anbieten?
– Wird alles Punkt-zu-Punkt bedient oder muss ich umsteigen?
– Wie hoch wird der angestrebte Kilometerpreis sein?
– Wie hoch wird der Fahrpreis subventioniert?
– Woher kommen die zusätzlichen Busfahrer – ein Beruf mit ungünstigsten Arbeitszeiten?
– Welche Vorlaufzeit muss eine Fahrtbestellung haben?
– Wie kurzfristig ist ein Storno möglich?
– Wie reagiert das System auf Engpässe/Baustellen/Unfälle?
– Wie sieht der Schadensersatz bei Unpünktlichkeit aus?
– Wie kann ich den Service ohne Smartphone-App nutzen?
(PS: heben die MPI’ler schon einmal gesehen, welche Schwierigkeiten ältere Menschen mit der Smartphone-Bedienung haben? Wenn sie es überhaupt bedienen können…)
– Wenn ich Taxis und Busse mit einbeziehe: wie läuft der Datenaustausch und wie werden dann Prioritäten gesetzt, wenn konkurrierend Aufträge eingehen von Direktkunden und Rufbus-Anforderungen?
Zu all diesen Fragen muss es mehr als ein ‚Das-lösen-wir-dann‘ geben, hier muss ein gewisses Qualitätslevel definiert werden, das notwendig ist, um überhaupt Menschen für die Nutzung zu gewinnen. Ansonsten heißt das Spiel nämlich ‚Geldverbrennen‘ – aber für einen guten Zweck!